Kafkaeskes Lehrstück

Ein kafkaeskes Lehrstück politisch-institutioneller
Bösartigkeit

Den Nawid habe ich zum ersten Mal am 26. April 2016 gesehen. Ich kann mich gut daran erinnern. An dem Tag war unser erster voller Workshop mit jungen geflüchteten Menschen für WIR. HIER UND JETZT. Stattgefunden hat er an der Business Academy Donaustadt, in einer eigens nach der großen Flucht des Jahres 2015 eingerichteten Brückenklasse. Aus nahe liegenden Gründen hatte ich mich darauf gefasst gemacht, dort mehr oder weniger traumatisierte Menschen zu treffen. Auch wenn ich als Fotograf in der Regel nur passiv an unseren Schreib-Workshops teilnehme, lassen mich schon die emotionalen Dynamiken eines „normalen“ Workshops oft alles andere als unberührt. Die fotografische Dokumentation dieser Veranstaltungen, in denen wir immer wieder mit Menschen aus an den Rand gedrängten und wehrlosen Teilen der Gesellschaft arbeiten, erfordert da immer wieder ein gewisses Maß an Zurückhaltung, Aufmerksamkeit und Sensibilität.


Im Fall dieser Brückenklasse an der Business Academy Donaustadt waren meine Bedenken unbegründet .Ich hatte eindeutig die adoleszente Super-Power unterschätzt, nämlich das Gestern gestern sein zu lassen und nach vorne zu blicken. Diese Jugendlichen waren außerdem in der glücklichen Lage, an einer guten Schule gelandet zu sein und dort eine überaus engagierte Lehrerin abbekommen zu haben. Die Stimmung in der Klasse war gelöst und positiv. Die Deutschkenntnisse der gesamten Gruppe beeindruckend. So sehr, dass ich nach einer kurzen Zeit vor Ort nicht mehr sicher war, ob ich bei unserer Ankunft richtig verstanden hatte, dass sich niemand hier länger als neun, zehn Monate in Österreich aufhielt. In der Folge lernten wir an diesem Tag 16 Teenager im Alter von 15–18 Jahren kennen. Drei junge Frauen und 13 junge Männer. Jeweils eine Person aus Somalia und Nigeria, zwei Menschen aus dem Irak, fünf aus Syrien und sieben aus Afghanistan. Unter den Letztgenannten der damals 18-jährige Nawid Naderi aus Kunduz.


Wenn ich meine Fotos von diesem Workshop heute ansehe, dann erkenne ich in den Gesichtern ihrer Protagonisten die ausgelassene Lebensfreude von jungen Menschen, die sich aus unterschiedlichen Inszenierungen von Dantes Inferno in eines der reichsten Länder der Welt retten konnten. Die heilfroh waren, nicht mehr an ihrem baren Durchkommen und Überleben arbeiten zu müssen, und sich stattdessen altersgerechteren Beschäftigungen widmen konnten. Die nach einem langen Blick in alle möglichen menschlichen Abgründe (oft nur scheinbar) in Sicherheit angekommen waren.


Die meisten unserer Begegnungen mit den Autoren der Berichte aus dem neuen OE bleiben einmalige Angelegenheiten. Nawid ist den Berichten aber verbunden geblieben und hat das Projekt gemeinsam mit einer kleinen Gruppe ehemaliger Autorinnen und Autoren bei öffentlichen Veranstaltungen als Vorleser nach außen repräsentiert. In den dreieinhalb Jahren, die seit unserer ersten Begegnung vergangen sind, habe ich ihn so bei Veranstaltungen unserer HÖRT-ZU!-Lesereihe, verschiedenen Projektpräsentationen, den Buchpräsentationen von WIR. HIER UND JETZT und der aktuell laufenden Lese- und Gesprächsreihe in den Pensionistenklubs der Stadt Wien getroffen und fotografiert. Ich habe Nawid dabei nicht wirklich näher kennengelernt. Aber ich habe ein wenig Zeit mit ihm verbracht, ihn als Fotograf über mehrere Jahre immer wieder beobachtet und wurde von gemeinsamen Freunden und Kollegen immer wieder auf dem Laufenden gehalten. Jene ausgelassene Lebensfreude, die auf den Bildern vom April 2016 so deutlich zu erkennen ist, hat sich im Lauf der Jahre aus Nawids Fotos verabschiedet. Seine Freundlichkeit erscheint kontrollierter. Nicht geringer oder weniger ehrlich, aber weniger überbordend. Mit dem Schatten der zunehmenden Erkenntnis versehen, dass er bei uns in Österreich doch nicht in Sicherheit angekommen war. Wie mit Nawid umgegangen wurde, was offizielle österreichische Policy gegenüber Flüchtlingen aus Afghanistan ist, kann man ohne Übertreibung als Ausübung bürokratischer Gewalt, wie als kafkaeskes Lehrstück politisch-institutioneller Bösartigkeit verstehen.


Für 2015, das Jahr, in dem Nawid nach Europa geflüchtet ist, verzeichnen die Vereinten Nationen 11.002 zivile Opfer der sich überlagernden Konflikte in Afghanistan, davon 3.545 Tote. Kinder, Frauen und Männer. Alte und Junge – damals der höchste je verzeichnete Wert. 2018 wurden 3.804 Zivilisten in Afghanistan getötet, ein neuer Rekord. Seit 2009, dem Beginn zuverlässiger Aufzeichnungen, waren es 32.114. Sie sterben als Ziele oder gelten als Kollateralschäden. Werden von den Taliban, Daesh, anderen Anti Government Forces, staatlich-afghanischen Sicherheitskräften und den Streitkräften der internationalen Militärkoalition getötet. Im Rahmen von Luftschlägen und Gefechten am Boden. Von Sprengfallen und Blindgängern, bei Selbstmordanschlägen, als Opfer gezielter Tötungen und aus statistischen 6 % anderen Ursachen. Sie werden erschossen und in die Luft gesprengt, erschlagen, verbrannt und von Splittern zerrissen.
In unserer Republik – wie in weiten Teilen EUropas – reicht das für den Status eines sicheren Drittlands. Der Herr Karl würde applaudieren. Alles, was es dafür braucht, ist menschenverachtende Pragmatik, eine politische Kultur, in der mit einem Gutachten auch das Ergebnis beauftragt werden kann und die alteingesessenen Reflexe des Metternichschen Geheimratsstaates. Das ist Realpolitik at its worst: Flüchtlinge aus Afghanistan zum Zweck der Akquise populistisch-politischen Kleingelds nach Afghanistan abzuschieben.


Der amerikanische Philosophie-Professor J. Glenn Gray spricht im Zusammenhang mit seinen Fronterfahrungen als Infanterie-Offizier im Zweiten Weltkrieg von einer Tyranny of the Present, in der Vergangenheit und Zukunft bedeutungslos werden, weil die mörderische Gegenwart an der Front in jedem Moment den Tod bringen kann. Die Tyrannei der österreichischen Gegenwart afghanischer Flüchtlinge ist analog dazu wohl, dass für sie Zukunft bedeutungslos wird. Weil sie der Staat, die Politik und letzten Endes wir alle in einem grundrechtsfreien und amoralischen Schwebezustand suspendiert haben, aus dem sie in jedem Moment in eine tödliche Vergangenheit abgeschoben werden können.


Weil eine Zukunft das Einzige war, worauf Nawid hoffen konnte, ist ihm das nach vier Jahren in Österreich zu viel geworden.

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